Verfassungsmäßigkeit des Zinssatzes für die Erhebung von Aussetzungszinsen - Vorlage an das Bundesverfassungsgericht
Foto(s): ChatGPT, urheberfrei
Nach dem am 22.8.2024 veröffentlichten Vorlagebeschluss des BFH vom 8.5.2024, VIII R 9/23, wird die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) darüber eingeholt, ob § 237 i.V.m. § 238 Abs. 1 Satz 1 AO seit dem 1.1.2019 bis zum 15.4.2021 insoweit mit dem Grundgesetz vereinbar ist, als der Zinsberechnung für die Zinsen bei Aussetzung der Vollziehung (AdV) ein Zinssatz von 0,5 Prozent pro Monat zugrunde gelegt wird. Der VIII. Senat des BFH hält den gesetzlichen Zinssatz von 6 % p.a. für sog. Aussetzungszinsen für verfassungswidrig. Er hat daher das BVerfG angerufen.
Sachverhalt:
Im Streitfall hatte der Kläger seinen Einkommensteuerbescheid 2012 angefochten. Dessen Vollziehung setzte das Finanzamt aus. Die Klage war erfolglos. Aussetzungszinsen von 0,5 Prozent wurden für 78 Monate festgesetzt, u.a. für den Zeitraum vom 1.1.2019 bis zum 15.04.2021.
Der Kläger wandte sich gegen die Zinsfestsetzung. Der Einspruch ruhte zunächst wegen verfassungsrechtlicher Bedenken gegen die Höhe des gesetzlichen Zinssatzes. Nach dem Beschluss des BVerfG vom 8.7.2021 (1 BvR 2237/14, BVerfGE 158, 282) zur Unvereinbarkeit des Zinssatzes bei der Vollverzinsung nach § 233a i.V.m. § 238 Abs. 1 Satz 1 AO mit Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) wies das Finanzamt den Einspruch als unbegründet zurück.
Mit der dagegen fristgerecht erhobenen Klage zum FG hat der Kläger geltend gemacht, die AdV-Zinsen seien der Höhe nach seit dem 1.1.2019 verfassungswidrig und dürften nicht mehr erhoben werden. Das FG hat die Klage abgewiesen (FG Münster v. 8.3.2023, 6 K 2094/22 E, EFG 2023, 737). Nach Auffassung des FG verstößt die Höhe der AdV-Zinsen von 0,5 Prozent pro Monat im zu beurteilenden Zeitraum nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Es liege bereits keine Ungleichbehandlung von wesentlich Gleichem vor. Aber selbst wenn eine Ungleichbehandlung vorläge, wäre diese gerechtfertigt. Da der Steuerpflichtige die AdV beantragen müsse oder eine von Amts wegen gewährte AdV abwenden könne, sei die Ungleichbehandlung im Verhältnis zur Vollverzinsung nach § 233a AO nicht willkürlich. Die Höhe der AdV-Zinsen verstoße zudem nicht gegen das Rechtsstaatsprinzip in Form des Übermaßverbots. Hiergegen wendet sich die Revision des Klägers.
Entscheidungsgründe:
Das Revisionsverfahren ist gemäß Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG auszusetzen und eine Entscheidung des BVerfG einzuholen. Der erkennende Senat ist davon überzeugt, dass der Zinssatz bei AdV gemäß § 237 i.V.m. § 238 Abs. 1 Satz 1 AO insoweit der Höhe nach gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstößt, als der Zinsberechnung für die AdV zwischen dem 1.1.2019 und dem 15.4.2021 ein Zinssatz von 0,5 Prozent pro Monat zugrunde gelegt wird.
Zumindest während einer anhaltenden strukturellen Niedrigzinsphase ist der gesetzliche Zinssatz der Höhe nach evident nicht (mehr) erforderlich, um den durch eine spätere Zahlung typischerweise erzielbaren Liquiditätsvorteil abzuschöpfen. Sie wären in einer Höhe von 0,5 Prozent pro Monat auch nicht erforderlich, um unnötige Steuerprozesse oder Rechtsbehelfe ohne ernsthafte Erfolgsaussichten zu verhindern.
Zudem werden Steuerpflichtige, die Zinsen schulden, weil sie die Steuer nach AdV nicht bezahlt haben, und Steuerpflichtige, die Nachzahlungszinsen entrichten müssen, weil ihre Steuerfestsetzung zu einem Unterschiedsbetrag (§ 233a Abs. 3 AO) geführt hat und sie die materiell-rechtlich von Anfang an geschuldete Steuer deshalb erst später zahlen müssen, ungleich behandelt. Denn Nachzahlungszinsen werden seit dem 1.1.2019 lediglich mit einem Zinssatz von 0,15 Prozent für jeden Monat, also 1,8 % p.a. berechnet. Auch diese Zinssatzspreizung ist nach Ansicht des erkennenden Senats verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt.
Beratungshinweis:
Mit der heutigen Besprechungsentscheidung hält auch der VIII. Senat des BFH den gesetzlichen Zinssatz von 6 % p.a. für sog. Aussetzungszinsen für verfassungswidrig und hat daher das BVerfG angerufen. In dem Vorlagebeschluss werden die Gründe ausführlich dargelegt.
Mit Beschluss vom 8.7.2021 (Az. 1 BvR 2237/14, BVerfGE 158, 282) hat das BVerfG bereits die Vollverzinsung in dieser Höhe (§ 233a i.V.m. § 238 Abs. 1 Satz 1 AO) ab dem 1.1.2014 für unvereinbar mit Art. 3 Abs. 1 GG erklärt, dies aber nicht auf die Aussetzungszinsen und andere Teilverzinsungstatbestände erstreckt. Es bleibt spannend, wie das BVerfG letztendlich diese Frage entscheidet und ob es dem Gesetzgeber erneut einen Anpassungsauftrag zur Herstellung der Verfassungskonformität erteilt. In der Praxis sollten alle Verfahren zu den Aussetzungszinsen offen gehalten bzw. ruhend gestellt werden. Eine Vorläufigkeit wäre insoweit nach § 165 Abs. 1 Nr. 3 AO angezeigt.
Haben Sie konkrete Fragen oder benötigen Sie rechtliche Beratung zu diesem Thema? Unser Team steht Ihnen gerne zur Verfügung. Kontaktieren Sie uns noch heute für eine individuelle Beratung.
Der Autor: Dr. Alexander Kersten - Rechtsanwalt, Steuerberater und geschäftsführender Partner bei STEIN Rechtsanwälte Steuerberater in Köln. Der Beitrag wurde mit freundlicher Genehmigung des Stollfuß Verlags – Zweigniederlassung der Lefebvre Sarrut GmbH – zur Verfügung gestellt. Der Beitrag wurde im Newsletter eNews Steuern, Nr. 34/2024 vom 27.08.2024 veröffentlicht