Korrektur bestandskräftiger Bescheide nach Außenprüfung

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Nach der am 4.7.2024 veröffentlichten Entscheidung des BFH vom 6.5.2024, III R 14/22, ist die Art und Weise, in der der Steuerpflichtige seine Aufzeichnungen geführt hat, eine Tatsache im Sinne des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO. Dies gilt im Fall der Einnahmenüberschussrechnung nicht nur für Aufzeichnungen über den Wareneingang gemäß § 143 AO, sondern ebenso für sonstige Aufzeichnungen und die übrige Belegsammlung. 

Sachverhalt: 

Der Kläger war in den Streitjahren 2013 und 2014 als Einzelunternehmer tätig und ermittelte den Gewinn für den von ihm betriebenen Einzelhandel im Wege der Einnahmenüberschussrechnung. Der Kläger verwendete eine elektronische Kasse, die auf den täglich ausgedruckten Z-Bons fünf Warengruppen auswies (Verkauf 19%, Verkauf 7%, xxx, xxx, xxx). Eine weitere Aufgliederung oder Aufzeichnung der Umsätze nach einzelnen Waren und Dienstleistungen nahm der Kläger nicht vor. Die Z-Bons korrigierte der Kläger gelegentlich handschriftlich. Außerdem führte der Kläger täglich Kassenberichte. 

Das Finanzamt veranlagte den Kläger zunächst erklärungsgemäß und ohne Vorbehalt der Nachprüfung zur Einkommensteuer 2013 und 2014. 

Im Rahmen einer Außenprüfung 2017 kam der Prüfer zu dem Ergebnis, dass der Kläger seinen Aufzeichnungspflichten nicht hinreichend nachgekommen sei (Geschäftsvorfälle zeitlich und inhaltlich nicht korrekt festgehalten, fehlerhafte Führung Kassenbuch, handschriftliche Korrekturen Z-Bons). Eine Geldverkehrsrechnung ergab keine ungeklärten Einnahmefehlbeträge. Dennoch nahm der Prüfer wegen erheblicher Kassenführungsmängel eine Hinzuschätzung durch Sicherheitszuschlag in Höhe von 10 % der Barerlöse vor. 

Das Finanzamt folgte den Feststellungen und erließ entsprechende Änderungsbescheide nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO. Nach erfolglosen Einsprüchen gab das Niedersächsische FG der anschließend erhobenen Klage statt (Urteil v. 21.8.2020, 3 K 208/18, EFG 2022, 1669), da der Prüfer keine materiellen Mängel habe feststellen können. Lediglich formelle Mängel der Kassenführung könnten keine Korrek tur i. S. von § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO rechtfertigen. 

Hiergegen richtet sich die Nichtzulassungsbeschwerde der Verwaltung. Der BFH ließ daraufhin die Revision zu. 

Entscheidungsgründe: 

Die Revision ist begründet. Sie führt zur teilweisen Aufhebung des angefochtenen Urteils, soweit dieses die Änderungsbescheide zur Einkommensteuer für 2013 und 2014 in Gestalt der Einspruchsentscheidung betrifft, und insoweit zur Zurückverweisung der nicht spruchreifen Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung. 

Das vorinstanzliche FG ist zu Unrecht davon ausgegangen, dass die Regelung des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO eine Änderung bestandskräftiger (Einkommen-)Steuerbescheide im Nachgang zu einer Außenprüfung nur dann zulasse, wenn sicher feststehe, dass der Steuerpflichtige Betriebseinnahmen nicht aufgezeichnet hat. Der Senat kann auf der Grundlage der vom FG getroffenen Feststellungen aber nicht entscheiden, ob die übrigen Voraussetzungen des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO erfüllt sind. 

Tatsache im Sinne des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO ist alles, was Merkmal oder Teilstück eines gesetzlichen Steuertatbestands sein kann, also Zustände, Vorgänge, Beziehungen und Eigenschaften materieller oder immaterieller Art. Die Art und Weise, in der der Steuerpflichtige seine Aufzeichnungen geführt hat, ist eine Tatsache im Sinne des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO. Dies gilt für Aufzeichnungen über den Wareneingang gemäß § 143 AO (BFH v. 9.3.2016, X R 9/13, BStBl II 2016, 815; v. 19.1.2017, III R 28/14, BStBl II 2017, 743) ebenso wie für sonstige Aufzeichnungen oder die übrige Belegsammlung eines Steuerpflichtigen, der seinen Gewinn nach § 4 Abs. 3 EStG ermittelt. Diese Vorschrift enthält zwar kei ne Verpflichtung zur förmlichen Aufzeichnung der Betriebseinnahmen und Betriebsausgaben; eine ordnungsgemäße Überschussrechnung setzt aber voraus, dass ihre Höhe durch Belege nachgewiesen wird (vgl. BFH v. 12.12.2017, VIII R 6/14, BFH/NV 2018, 606; v. 12.2.2020, X R 8/18, BFH/NV 2020, 1045). 

Übertragen auf den Streitfall folgt hieraus, dass namentlich die Art, in der der Kläger seine Bareinnahmen festgehalten hat, der Inhalt der Aufzeichnungen sowie das Vorhandensein der Z-Bons und deren Inhalt als Tatsachen - und nicht (wie vom FG angenommen) lediglich als Hilfstatsachen - anzusehen sind. Erst durch die im Jahr 2017 durchgeführte Außenprüfung - und somit nachträglich - hat es von den Kassenaufzeichnungen des Klägers in den Streitjahren sowie von den bei ihm dazu vorhandenen Belegen (Z-Bons) und ihrem Inhalt Kenntnis erlangt. 

Grundsätzlich verdient eine Einnahmenüberschussrechnung nur bei Vorlage geordneter und vollständiger Belege Vertrauen und kann für sich die Vermutung der Richtigkeit in Anspruch nehmen (BFH v. 15.4.1999, IV R 68/98, BStBl II 1999, 481; v. 12.12.2017, VIII R 6/14, BFH/NV 2018, 606). Das Fehlen einer Verpflichtung zur Aufzeichnung der Betriebseinnahmen und Betriebsausgaben bedeutet nicht, dass das Finanzamt die erklärten Gewinne oder Verluste stets ungeprüft hinnehmen muss. Der Steuerpflichtige trägt das Risiko, dass die Besteuerungsgrundlagen nicht ermittelt oder berechnet werden können und deshalb die Voraussetzungen für eine Schätzung gemäß § 162 AO erfüllt sind (vgl. BFH v. 15.4.1999, IV R 68/98, BStBl II 1999, 481; v. 11.11.2022, VIII B 97/21, BFH/NV 2023, 113). 

Das FG muss im zweiten Rechtsgang prüfen, ob die Voraussetzungen für eine Hinzuschätzung von Betriebseinnahmen aufgrund der festgestellten Mängel vorliegen. 

Beratungshinweis: 

Das vorliegende Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren hat eine höchst praxisrelevante Fallkonstellation zum Gegenstand: Die Hinzuschätzung wegen rein formeller Mängel der Kassenführung bei der Gewinnermittlung nach § 4 Abs. 3 EStG. 

Sowohl bei Verletzung der Aufbewahrungspflicht als auch bei Verletzung der Aufzeichnungspflicht ist das Finanzamt dem Grunde nach zur Schätzung gem. § 162 Abs. 1 und 2 AO berechtigt 

(BFH v. 26.2.2004, XI R 25/02, BStBl II 2004, 599). Zur (Hinzu-)Schätzung berechtigen auch formelle Mängel der Aufzeichnungen über Bareinnahmen, die zwar keinen sicheren Schluss auf eine Einnahmenverkürzung zulassen, aber dazu führen, dass keine Gewähr mehr für die Vollständigkeit der Erfassung der Bareinnahmen besteht, ohne dass eine nachträgliche Ergänzung der Dokumentation beziehungsweise eine anderweitige Heilung des Mangels möglich wäre (vgl. BFH v. 25.3.2015, X R 20/13, BStBl II 2015, 743; BFH v. 14.8.2018, XI B 2/18, BFH/NV 2019; v. 8.8.2019, X B 117/18, BFH/NV 2019, 1219). 

Neben dieser allgemein anerkannten Schätzungsbefugnis sieht der III. Senat des BFH nunmehr rein formelle Buchführungsmängel auch als neue Tatsache i.S.d. § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO an, so dass eine Bescheidkorrektur auch ohne Vorbehalt der Nachprüfung nach BP möglich wird. Entscheidend wird die Beurteilung der Rechtserheblichkeit der nachträglich bekanntgewordenen Tatsache werden, so dass die Entscheidung im zweiten Rechtsgang abzuwarten bleibt.

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Der Autor: Dr. Alexander Kersten - Rechtsanwalt, Steuerberater und geschäftsführender Partner bei STEIN Rechtsanwälte Steuerberater in Köln. Der Beitrag wurde mit freundlicher Genehmigung des Stollfuß Verlags – Zweigniederlassung der Lefebvre Sarrut GmbH – zur Verfügung gestellt. Der Beitrag wurde im Newsletter eNews Steuern, Nr. 27/2024 vom 09.07.2024 veröffentlicht