Unangekündigte Wohnungsbesichtigung zur Aufklärung im Besteuerungsverfahren (Arbeitszimmer) durch einen Flankenschutzprüfer rechtswidrig

Nach der am 29.9.2022 veröffentlichten Entscheidung des BFH v. 12.7.2022, VIII R 8/19 ist die unangekündigte Wohnungsbesichtigung durch einen Beamten der Steuerfahndung als sog. Flankenschutzprüfer zur Überprüfung der Angaben des Steuerpflichtigen zu einem häuslichen Arbeitszimmer im Besteuerungsverfahren wegen Verstoßes gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz rechtswidrig, wenn der Steuerpflichtige bei der Aufklärung des Sachverhalts mitwirkt. Dies gilt auch dann, wenn der Steuerpflichtige der Ortsbesichtigung zustimmt und deshalb kein schwerer Grundrechtseingriff in Art. 13 Abs. 1 GG vorliegt.

Sachverhalt:

Die Klägerin war angestellte Geschäftsführerin eines Restaurants und als selbstständige Unternehmensberaterin tätig. Für das Streitjahr 2015 machte sie bei den Einkünften aus freiberuflicher Tätigkeit erstmals Aufwendungen für ein häusliches Arbeitszimmer in Höhe von 567,12 EUR geltend. Ihr Steuerberater reichte auf Nachfrage des Finanzamts eine Skizze der Wohnung ein. Der Skizze war zu entnehmen, dass zur Wohnung ein Zimmer gehörte, das maschinenschriftlich mit „SCHLAFEN“ bezeichnet wurde. Diese Bezeichnung war durchgestrichen und handschriftlich durch „ARBEIT“ ersetzt worden. Keiner der übrigen Räume war als Schlafzimmer bezeichnet worden. Da der für die Veranlagung zuständige Sachbearbeiter des Finanzamts die Skizze für klärungsbedürftig hielt, schaltete er den hausinternen Flankenschutzprüfer – einen Beamten der Steuerfahndung – ein und bat diesen um „Besichtigung“ der Wohnung.

Der Steuerfahnder erschien am 11.5.2017 unangekündigt in der Privatwohnung der Klägerin, um zu prüfen, ob das Arbeitszimmer wie angegeben vorhanden war. Er traf die Klägerin an, wies sich durch Vorlage seines Dienstausweises der Steuerfahndung aus und betrat, da die Klägerin der Besichtigung unter Hinweis auf die Überprüfung im Besteuerungsverfahren nicht widersprach, die Wohnung. Der Beamte stellte fest, dass die Angaben der Klägerin in der Steuererklärung den Tatsachen entsprachen und das Arbeitszimmer existierte; abweichend von dem Wohnungsgrundriss laut Skizze verfügte die von der Klägerin angemietete Wohnung über zwei weitere Räume, von denen einer als Schlafzimmer genutzt wurde. In seinem Vermerk an den Veranlagungsbezirk wies der Steuerfahnder darauf hin, dass die Klägerin demnächst in die gegenüberliegende Wohnung ziehen werde und abzuwarten sei, welche Raumaufteilung sich dann ergebe.

Im Nachhinein wandte sich die Klägerin gegen die Besichtigung erfolglos mit dem Einspruch. Die von der Klägerin daraufhin erhobene Klage auf Feststellung, dass die Besichtigung vom 11.5.2017 rechtswidrig war, wurde vom FG Münster mit Urteil v. 11.7.2018 (9 K 2384/17, EFG 2018, 1847) als unzulässig abgewiesen. Hiergegen richtet sich die Revision der Klägerin.

Entscheidungsgründe:

Die Revision hat Erfolg. Zunächst hat die Klägerin ein berechtigtes Interesse an der begehrten Feststellung, dass die Ortsbesichtigung rechtswidrig war. Denn es liegt eine konkrete Wiederholungsgefahr hinsichtlich des Vorgehens des Finanzamts vor. Das FG hat folglich die Klage unzutreffend als unzulässig abgewiesen. Das angefochtene Urteil ist aufzuheben.

Auch in der Sache entschied der VIII. Senat des BFH zugunsten der Klägerin, dass die Besichtigung rechtswidrig war. Diese Maßnahme verletzte den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, da gleich geeignete, mildere Mittel (weiteres schriftliches Auskunftsersuchen, Ortsbesichtigung nach vorheriger Benachrichtigung oder Inaugenscheinnahme des häuslichen Arbeitszimmers durch einen Mitarbeiter der Veranlagungsstelle) zur Verfügung gestanden hätten. Angesichts des in Art. 13 Abs. 1 GG verbürgten Schutzes der Unverletzlichkeit der Wohnung als eines Teils der Privatsphäre wäre eine Ortsbesichtigung i. S. von § 99 AO erst dann erforderlich gewesen, wenn die Unklarheiten durch weitere Auskünfte der Klägerin nicht mehr hätten sachgerecht aufgeklärt werden können (vgl. FG Düsseldorf v. 24.1.2008, 11 K 3182/05 Gr,BG; Roser in Gosch, AO § 99 Rz. 2). Dies war vorliegend nicht der Fall. Das Finanzamt hätte die Unklarheiten in Bezug auf die Wohnungsskizze zunächst durch eine weitere Nachfrage bei der Klägerin bzw. ihrem steuerlichen Berater klären können. Das Vorbringen des Finanzamts, dass ein neuerliches Auskunftsersuchen zu weiteren Missverständnissen hätte führen können, hält der erkennende Senat nicht für überzeugend, da die Klägerin im Besteuerungsverfahren bei der Aufklärung des Sachverhalts pflichtgemäß mitgewirkt hatte und keine begründeten Zweifel an ihrer steuerlichen Zuverlässigkeit bestanden.

Die unangekündigte Ortsbesichtigung war auch deshalb rechtswidrig, weil das Finanzamt bei seiner Ermessensentscheidung sowohl in Bezug auf die Auswahl der Aufklärungsmaßnahme als auch auf deren Durchführung den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne (Angemessenheit) verletzt hat. Das Eindringen staatlicher Organe in die Wohnung des Steuerpflichtigen bedeutet regelmäßig einen Eingriff in die persönliche Lebenssphäre des Betroffenen. Das Recht, „in Ruhe gelassen zu werden“, soll gerade in den Wohnräumen gesichert sein (BVerfG v. 5.5.1987, 1 BvR 1113/85, BVerfGE 75, 318, Rz. 29). Dies gilt, wie das BVerfG in seinem Beschluss v. 6.7.2010 (2 BvL 13/09, BStBl II 2011, 318, Rz. 47) ausgeführt hat, auch für das häusliche Arbeitszimmer in der Wohnung des Steuerpflichtigen. Nach den Ausführungen des BVerfG ist die Überprüfung der Abzugsfähigkeit der geltend gemachten Aufwendungen für ein häusliches Arbeitszimmer wegen des engen Zusammenhangs zur Sphäre der privaten Lebensführung und des Schutzes durch Art. 13 GG „wesentlich eingeschränkt oder gar unmöglich“. Daher muss es zur Feststellung der häuslichen Verhältnisse im Allgemeinen genügen, aus dem äußeren Anschein die erforderlichen Folgerungen zu ziehen. Diesem Zweck dient die pauschalierte Begrenzung des Aufwandsabzugs für ein häusliches Arbeitszimmer in § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 6b des Einkommensteuergesetzes. Sie soll den Steuerpflichtigen vor der besonders belastenden Besichtigung des Arbeitszimmers in der Wohnung bewahren und die objektiv gegebene, staatlich jedoch nicht beobachtbare Möglichkeit privater Mitbenutzung des häuslichen Arbeitszimmers pauschal berücksichtigen.

Die Finanzbehörde kann von diesem allgemeinen Grundsatz bei der Auswahl ihrer Ermittlungsmaßnahme nicht deshalb entbunden werden, weil der Betroffene – wie im vorliegenden Fall die Klägerin – später in die rechtswidrige Durchführung der Ortsbesichtigung eingewilligt hat. Es liegt dann zwar kein schwerer Grundrechtseingriff vor. Dennoch wurde das Ermessen bei der Auswahl der Ermittlungsmaßnahme wegen Verstoßes gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz rechtswidrig ausgeübt. Dies gilt zumindest dann, wenn der Steuerpflichtige – wie im vorliegenden Fall die Klägerin – bereit ist, an der Aufklärung des Sachverhalts durch die Vorlage von Plänen und ggfs. anderer Beweismittel wie Fotografien mitzuwirken, und nicht der konkrete Verdacht einer Steuerhinterziehung besteht.

Ein weiterer Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im engeren Sinne liegt darin, dass die Ortsbesichtigung von einem Beamten der Steuerfahndung und nicht von einem Mitarbeiter der Veranlagungsstelle durchgeführt wurde. Auch wenn der Steuerfahnder bei der Ortsbesichtigung darauf hingewiesen hat, dass er nach § 208 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO zur Ermittlung der Besteuerungsgrundlagen und nicht zur Erforschung einer Steuerstraftat nach § 208 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO tätig wurde, ist der Einsatz eines Beamten der Steuerfahndung zur Inaugenscheinnahme des häuslichen Arbeitszimmers als belastender anzusehen, als wenn die Besichtigung durch einen Beamten des Innendienstes durchgeführt worden wäre. Denn ein rechtsunkundiger Steuerpflichtiger, dem die Unterscheidung der doppelfunktionalen Aufgabenbereiche der Steuerfahndung nicht bekannt ist, wird bei dem Erscheinen eines Steuerfahnders an der Haustür in der Regel eher geneigt sein, zur Vermeidung weiterer Unannehmlichkeiten in das Betreten seiner Wohnung einzuwilligen. Zudem ist nicht auszuschließen, dass bei einer Ermittlung durch einen Steuerfahnder gegenüber (zufällig) anwesenden Dritten (z. B. Besuchern, Nachbarn) in der privaten Umgebung des Steuerpflichtigen der Eindruck vermittelt werden könnte, dass beim Steuerpflichtigen strafrechtlich ermittelt wird. Dadurch kann das persönliche Ansehen des Steuerpflichtigen gefährdet werden.

Hinweis des Fachanwalts für Steuerrecht:

Seit mehr als 20 Jahren sitzt die jeweils zuständige Steuerfahndung bzw. Straf- und Bußgeldsachenstelle auch mit im Festsetzungsfinanzamt und unterstützt die Kollegen aus der Veranlagung und (Amts-)Betriebsprüfung. Was für die Verwaltung praktisch und bequem ist – können so relevante Sachverhalte und Fragestellungen „auf kurzem Dienstweg“ zum Nachbarbüro oder in der Kantine besprochen werden –, ist für die betroffenen Steuerpflichtigen weit weniger erfreulich – wie der heutige Besprechungsfall zeigt. Denn regelmäßig verschwimmen die Grenzen zwischen den verfahrensrechtlich klar getrennten und voneinander unabhängigen Verfahren der Besteuerung (Ermittlung, Erhebung und Vollstreckung) und der Strafverfolgung. Das Risiko der Kompetenzüberschreitung und die fehlende Wahrung der Betroffenenrechte finden sich in allen Grenzfällen, in denen das Besteuerungsverfahren auf das Strafverfahren trifft (so z. B. auch bei der Betriebsprüfung mit der Einleitung des Strafverfahrens). Widerstreitende Rechtspflichten und Rechtsfolgen (Mitwirkungspflicht vs. Selbstbelastungsfreiheit) machen den Umgang in diesen Verfahren kompliziert.

Der BFH hat mit der vorliegenden Entscheidung dem uferlosen Einsatz des Flankenschutzprüfers als "Werkzeug der Veranlagungsstelle" richtigerweise eine deutliche Absage erteilt. In der Praxis gilt es, die Rechte und Pflichten im jeweiligen Verfahren genau zu kennen und ggfs. Maßnahmen rechtzeitig und entschieden anzufechten.

Der Autor: Dr. Alexander Kersten - Rechtsanwalt, Steuerberater und geschäftsführender Partner bei STEIN Rechtsanwälte Steuerberater in Köln

Der Beitrag wurde mit freundlicher Genehmigung des Stollfuß Verlags – Zweigniederlassung der Lefebvre Sarrut GmbH – zur Verfügung gestellt. Der Beitrag wurde im Newsletter eNews Steuern, Nr. 39/2022 v. 04.10.2022 veröffentlicht (www.stollfuss.de/newsletter).

Dr. Alexander Kersten