Steuerhinterziehung trotz maschineller Übermittlung der maßgeblichen Daten der elektronischen Lohnsteuerbescheinigungen an das Finanzamt?

Nach der am 1.8.2022 veröffentlichten Entscheidung des FG Münster v. 24.6.2022, 4 K 135/19 E liegt der objektive Tatbestand einer Steuerhinterziehung (oder leichtfertigen Steuerverkürzung) nicht vor, wenn sich die steuerlich erheblichen Tatsachen i. S. d. § 370 Abs. 1 Nr. 1 und 2 AO aus den an das Finanzamt maschinell übermittelten elektronischen Lohnsteuerbescheinigungen ergeben und lediglich bei der Finanzbehörde nicht ausgewertet worden sind.

Sachverhalt:

Die Kläger sind verheiratet. Bis einschließlich 2008 erzielte lediglich der Kläger Einkünfte aus nichtselbstständiger Arbeit. Der Lohnsteuerabzug erfolgte über die Steuerklasse III. Die Kläger reichten regelmäßig Einkommensteuererklärungen ein. Sie wurden zusammen veranlagt. Das Finanzamt speicherte den Steuerfall der Kläger in seinem Datenverarbeitungsprogramm als Antragsveranlagung ab. Ab 2009 erzielte nicht nur der Kläger, sondern auch die Klägerin Einkünfte aus nichtselbstständiger Arbeit. Weitere Einkünfte erzielten die Kläger nicht. Der Lohnsteuerabzug des Klägers erfolgte weiterhin über die Steuerklasse III, derjenige der Klägerin über die Steuerklasse V. Die Arbeitgeber der Kläger übermittelten dem Finanzamt die elektronischen Lohnsteuerbescheinigungen für die Kläger für die Jahre 2009 und 2010. In dem Datenverarbeitungsprogramm der Finanzverwaltung wurden diese elektronischen Lohnsteuerbescheinigungen unter der Steuernummer der Kläger in einer Übersicht über elektronische Bescheinigungen erfasst und waren dort abrufbar. Auf dem Ausdruck der elektronischen Lohnsteuerbescheinigungen war schriftlich vermerkt, dass die Daten der elektronischen Lohnsteuerbescheinigungen maschinell an die Finanzverwaltung übertragen worden seien.

Die Kläger reichten ab 2009 keine Steuererklärungen mehr ein. Der Steuerfall der Kläger blieb in dem Datenverarbeitungsprogramm des Beklagten weiterhin als Antragsveranlagung gespeichert. Der Beklagte versandte an die Kläger keine Aufforderungen zur Abgabe von Einkommensteuererklärungen. Erst Anfang 2018 bearbeitete das Finanzamt eine durch die Oberfinanzdirektion übersandte eDaten-Prüfliste. Hierbei fiel auf, dass mit der Aufnahme der nichtselbstständigen Tätigkeit durch die Klägerin in 2009 ein Wechsel von der Antrags- zur Pflichtveranlagung erfolgt war und die Kläger daher ab 2009 verpflichtet waren, Einkommensteuererklärungen einzureichen.

Daraufhin leitete die Finanzbehörde ein Steuerstrafverfahren gegen die Kläger ein und erließ Bescheide über Einkommensteuer und Verspätungszuschlag für 2009 und 2010 wegen verlängerter Festsetzungsfrist bei Steuerhinterziehung. In den Erläuterungen wurde ausgeführt, dass die Besteuerungsgrundlagen geschätzt worden seien, da die Kläger trotz Aufforderung keine Steuererklärungen abgegeben hätten. Die Verspätungszuschläge seien wegen Nichtabgabe der Steuererklärungen festgesetzt worden.

Nach erfolglosen Einsprüchen wandten sich die Kläger an das FG Münster.

Entscheidungsgründe:

Die Klage hat Erfolg. Die angefochtenen Bescheide sind rechtswidrig, weil nach Ansicht des erkennenden Senats weder für 2009 noch für 2010 eine auf zehn oder fünf Jahre verlängerte Festsetzungsfrist gilt. Denn es liegt weder eine Steuerhinterziehung noch eine leichtfertige Steuerverkürzung vor.

Im Streitfall haben die Kläger die für ihre Einkommensteuerveranlagung zuständige Finanzbehörde nicht über steuerlich erhebliche Tatsachen in Unkenntnis gelassen. Dem Finanzamt waren vielmehr die für die Einkommensteuerfestsetzung wesentlichen tatsächlichen Umstände bekannt. Insbesondere war dem Finanzamt aufgrund der für die Kläger zum insoweit maßgeblichen Zeitpunkt vorliegenden elektronischen Lohnsteuerbescheinigungen bekannt, dass die Kläger in den Streitjahren Einkünfte aus nichtselbstständiger Arbeit bezogen und beim Lohnsteuerabzug die Lohnsteuerklassen III (Kläger) und V (Klägerin) berücksichtigt wurden. Diese elektronischen Lohnsteuerbescheinigungen waren mit der gemeinsamen Steuernummer der verheirateten Kläger konkret verknüpft und ihr tatsächlich zugeordnet. Sie waren in einer Übersicht über elektronische Bescheinigungen abrufbar.

Nach der Überzeugung des erkennenden Senats scheidet eine vollendete Steuerhinterziehung durch Unterlassen (§ 370 Abs. 1 Nr. 2 AO) in den Fällen aus, in denen die Finanzbehörden zum maßgeblichen Veranlagungszeitpunkt (Abschluss der wesentlichen Veranlagungsarbeiten [zu 95 %]) von den für die Steuerfestsetzung wesentlichen tatsächlichen Umständen bereits Kenntnis haben. Der Wortlaut des § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO setzt ein In-Unkenntnis-lassen der Finanzbehörden über steuerlich erhebliche Tatsachen voraus. Nach dem Verständnis des erkennenden Senats kann ein Steuerpflichtiger eine Finanzbehörde nicht „in Unkenntnis lassen“, wenn sie tatsächlich über alle wesentlichen für die Steuerfestsetzung maßgeblichen Umstände informiert ist (vgl. bereits OLG Oldenburg v. 10.7.2018, 1 Ss 51/18, wistra 2019, 79 [rkr.]; FG Düsseldorf v. 26.5.2021, 5 K 143/20 U, wistra 2021, 331 [rkr.] und OLG Köln v. 31.1.2017, III-1 RVs 253/16, wistra 2017, 363 [rkr.]; in diese Richtung auch BFH v. 4.12.2012, VIII R 50/10, DStR 2013, 703 Rz. 31: „Hat nämlich die Finanzverwaltung – auf welchem Weg auch immer – die erforderlichen Informationen erhalten […], so scheidet eine Steuerhinterziehung durch Unterlassen aus […]“).

Auch der Sinn und Zweck des § 370 AO steht dieser Wortlautauslegung nicht entgegen, sondern stützt die Auffassung des Senats. Das von § 370 Abs. 1 AO geschützte Rechtsgut ist das öffentliche Interesse am rechtzeitigen und vollständigen Aufkommen der von dieser Norm erfassten Steuern (BVerfG v. 29.4.2010, 2 BvR 871/04, 2 BvR 414/08, BFH/NV 2010, 1595; BGH v. 2.12.2008, 1 StR 416/08, BGHSt 53, 71). Eine Gefährdung für dieses Rechtsgut durch die Steuerpflichtigen besteht nicht, wenn die Finanzbehörden tatsächlich über die für die Besteuerung wesentlichen Umstände informiert sind (so bereits OLG Oldenburg v. 10.7.2018, 1 Ss 51/18, wistra 2019, 79 [rkr.]; FG Düsseldorf v. 26.5.2021, 5 K 143/20 U, wistra 2021, 331 [rkr.] und OLG Köln v. 31.1.2017, III-1 RVs 253/16, wistra 2017, 363 [rkr.]).

Hinweis des Fachanwalts für Steuerrecht:

Das heutige Besprechungsurteil zum Verfahrensrecht behandelt eine sehr interessante Entscheidung zur Verwirklichung des objektiven Tatbestands bei Steuerhinterziehung oder leichtfertiger Steuerverkürzung. Kann ein Steuerpflichtiger die Verwaltung über steuerlich erhebliche Tatsachen in „Unkenntnis“ lassen, die als elektronische Daten bereits im Datenverarbeitungsprogramm der Finanzverwaltung vorhanden sind?

Vor dem Hintergrund der zunehmenden elektronischen Bereitstellung von Daten Dritter eine wichtige Frage, die das FG Münster unter Verweis auf finanzgerichtliche und strafrechtliche Rechtsprechung verneint. Die Frage ist allerdings in der Literatur umstritten. Der in der Literatur vertretenen Auffassung, nach der ein In-Unkenntnis-lassen bereits dann vorliegt, wenn ein Erklärungspflichtiger pflichtwidrig die steuerlich erheblichen Tatsachen nicht mitteilt, folgt der Senat hier nicht (so aber Peters, in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 370 Rz. 148 ff. sowie Jäger, in Klein, AO, 15. Auflage 2020, § 370 Rn. 60b). Anzumerken sei, dass es sich bei dem letztgenannten Autor Prof. Jäger um den stellvertretenden Vorsitzenden des für Steuerstrafsachen zuständigen 1. Strafsenats beim Bundesgerichtshof handelt. Zu dieser streitentscheidenden Frage liegt noch keine höchstrichterliche Rechtsprechung (des BFH oder des BGH) vor, so dass der erkennende Senat des FG Münster die Revision beim BFH zugelassen hat.

Der Autor: Dr. Alexander Kersten - Rechtsanwalt, Fachanwalt für Steuerrecht, Steuerberater und geschäftsführender Partner bei STEIN Rechtsanwälte Steuerberater in Köln

Der Beitrag wurde mit freundlicher Genehmigung des Stollfuß Verlags – Zweigniederlassung der Lefebvre Sarrut GmbH – zur Verfügung gestellt. Der Beitrag wurde im Newsletter eNews Steuern, Nr. 31/2022 v. 08.08.2022 veröffentlicht (www.stollfuss.de/newsletter).

Dr. Alexander Kersten